Land der Reisenden
Das Land der Reisenden besaß eine Unendlichkeit, über die sich keiner der Reisenden je einen Gedanken machte. Das Land der Reisenden bestand aus einer Vielzahl von kleinen und größeren Wegen, die teilweise durch gut befahrbares Gelände und teilweise durch tiefste Schluchten, Wüsten und Dschungeln ging. Alle nur erdenklichen Formen von Landschaften und Wege waren hier zu finden.
Die Reisenden selbst erzählten sich manchmal untereinander von ihren Reisewegen und was sie dort erlebt hatten und gaben ihren Wegen dann oft sehr blumige Namen, wie 'Weg meiner großen Liebe' oder 'Weg durchs Tal der tiefen Trauer'. Und manchmal erzählten sie sich auch von Wegen, die angeblich irgendwo existieren sollten. Worüber sie sich dann am liebsten unterhielten, war der 'Weg zur Quelle des unendlichen Glücks'. Jeder hatte eine andere Vorstellung davon. Und auch wenn sich die Beschreibungen in den meisten Fällen sehr glichen, war es ihnen ein fast schier unendliches Vergnügen, sich darüber auszutauschen.
Manch ein Reisender konnte sich in seinen Erzählungen dann dermaßen reinsteigern, dass er meinte, er wäre schon dort. Aber für einen Reisenden war das durchaus in Ordnung. Schließlich war er ja ein Reisender.
Und manchmal unterhielt man sich auch mit gedämpfter Stimme über die dunklen Wege. Wege wie der 'Weg ins ewige Grauen' oder 'Weg ins Land ohne Wiederkehr'. Vom 'Weg ins Land ohne Wiederkehr' gab es einige Geschichten von anderen Reisenden, die angeblich diesen Weg gegangen sein sollten. Und die man, dem Wegnamen entsprechend, danach nie wieder gesehen hatte. Die Vermutungen, was diesen Reisenden wohl passiert sein mag, waren ebenso vielfältig, wie das Land der Reisenden selbst. Im großen und ganzen aber teilten sich diese Meinungen in zwei Lager. Die einen meinten, es müßte ihnen etwas derart Schreckliches zugestoßen sein, dass sie nicht mehr weiterreisen konnten und die anderen (die etwas kleinere Gruppe) warf dann meistens ein, vielleicht würde dieses Land auch so vollendet schön sein, dass sie niemals mehr zurück wollten und ihre bisherigen Wege vielleicht sogar darüber vergessen hätten.
Aber bei allem was die Reisenden taten, hörten sie nie auf zu reisen. Ein jeder saß auf seiner Reschka, seinem Gefährt, das von seinem Brakáhr, dem Zugtier und ewigen Weggefährten, immer in Bewegung gehalten wurde.
Jedesmal wenn ein kleines Reisenderbaby geboren wurde, wurde im gleichen Moment auch sein Brakáhr geboren. Und für dieses Leben waren sie unzertrennliche Weggefährten. Denn nur der eigene Brakáhr vermochte die Reschka des Reisenden zu ziehen und nur dieser Reisender vermochte dem Brakáhr zu sagen, welchen Weg sie gehen würden.
Auf seiner Reschka verstaute jeder Reisender all die Dinge, die er auf seiner Reise mitnehmen wollte. Und an all diesen Dingen hingen Erinnerungen und Geschichten. Und fast jeder Reisender hatte zwischen all diesen Dingen eine mehr oder weniger große schwarze Kiste. Und in diese Kiste verstaute er dann all die Dinge, an die er sich nicht mehr so gern erinnern wollte. Die meisten schwarzen Kisten wurden möglichst klein gehalten (was nichts über ihren Inhalt aussagt) und so geschickt verstaut, dass andere Reisende sie möglichst nicht zu Gesicht bekamen.
Wer aber wirklich etwas über einen Reisenden erfahren wollte, schaute sich nicht nur den Reisenden selbst an und lauschte seinen Geschichten, sondern er sah sich auch seine Reschka an. Wie sie gebaut war und welche Spuren sie trug. Er sah sich den Zustand des Brakáhr an. Ob er gut versorgt und gepflegt war und ob zwischen ihm und dem Reisenden nicht nur eine zweckmäßige Verbindung bestand, sondern auch, ob es dort ein Band der Freundschaft gab. Und nicht zuletzt versuchte er, die schwarze Kiste zu finden ...
Geschrieben unter dem Namen "Shemena"